„Große Wellen“

„Große Wellen“ (aus Ohne Worte – ohne Schweigen, von Paul Reps)

In den frühen Tagen der Meiji-Zeit lebte ein bekannter
Ringer namens O-nami, Große Wellen. O-nami
war ungeheuer stark, und er beherrschte die Kunst
des Ringens. In seinen privaten Kämpfen schlug er
sogar seinen Lehrer, aber in der Öffentlichkeit war er
so schüchtern, daß seine eigenen Schüler ihn besiegten.
O-nami fühlte, daß er sich an einen Zen-Meister um
Hilfe wenden müsse. Hakuju, ein wandernder Lehrer,
hatte in einem nahen Tempel Rast gemacht. O-nami
suchte ihn auf um ihn zu treffen und ihm seinen
Kummer vorzutragen. »Große Wellen ist dein Name«,
sagte der Lehrer. »Bleib heute Nacht in diesem Tempel.
Stelle dir vor, daß du diese Wellen bist. Du bist nicht
länger ein Ringer, der sich fürchtet. Du bist diese
mächtigen Wogen, die alles vor sich herwälzen, die
alles verschlingen, was sich in ihrem Weg befindet.
Tu das, und du wirst der größte Ringer im Lande sein«.
Der Lehrer zog sich zurück. O-nami setzte sich zur
Meditation nieder und versuchte, sich selbst als Wogen
zu fühlen. Er dachte an viele verschiedene Dinge.
Dann verwandelte sich sein Gefühl stufenweise
mehr und mehr in das von Wogen. Als die Nacht
voranschritt, wurden die Wogen höher und höher.
Sie schwemmten die Blumen aus ihren Vasen. Sogar
der Buddha im Schrein wurde überflutet. Bevor die
Dämmerung kam, war der Tempel nichts anderes
mehr als die Ebbe und Flut eines ungeheuren Meeres.
Am Morgen fand der Lehrer O-nami in Meditation,
mit einem zaghaften Lächeln auf dem Gesicht. Er
schlug dem Ringer auf die Schulter. »Jetzt kann dich
nichts mehr erschüttern«, sagte er. »Du bist diese
Wellen. Du wirst alles vor dir herwälzen«.
Am selben Tag nahm O-nami an einem Ringerwettstreit
teil und gewann. Danach war keiner mehr in Japan
in der Lage, ihn zu besiegen.